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Im Arzthaftungsprozess hat das Gericht zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts in der Regel einen Sachverständigen einzuschalten. Ein gerichtliches Sachverständigengutachten muss der Tatrichter jedenfalls dann einholen, wenn ein im Wege des Urkundsbeweises verwertetes Gutachten (hier: aus einem vorangegangenen Verfahren einer ärztlichen Schlichtungsstelle) nicht alle Fragen beantwortet.

Leitsatz zum Beschluss des BGH vom 6. Mai 2008 – VI ZR 250/07 – OLG Brandenburg
LG Frankfurt (Oder)

Eine 47-jährige Patientin erlitt bei einem Sturz eine Trümmerfraktur der linken Kniescheibe. Die Patientin begab sich daraufhin in stationäre Behandlung in ein Krankenhaus. Bei der Aufnahme wurde eine Kniescheibenmehrfarktur festgestellt. Die Fraktur wurde zunächst konservativ mittels Ruhigstellung mit einer Schiene behandelt. Da sich der Zustand der Patientin in der Folgezeit verschlimmerte, erfolgte eine erneute Untersuchung mittels Röntgen. Hierbei wurde eine Stufenbildung der Bruchstellen festgestellt. Aufgrund der erneuten Untersuchung wurde nunmehr eine operative Behandlung durchgeführt. Das Knie der Patientin war nur eingeschränkt bewegungsfähig. Nach Entfernung der bei der ersten Operation eingebrachten Drähte unterzog sich die Patientin einer Reha-Maßnahme.

Die Patientin ist der Auffassung, dass ein Behandlungsfehler vorliegt. Die Stufenbildung sei zu spät erkannt worden. Zudem sie die konservative Behandlung deshalb fehlerhaft, da die verwendete Schiene zu spät angebracht worden sei und nicht richtig gepasst habe. Die durchgeführte Operation sei verspätet und auch fehlerhaft durchgeführt worden. Sie leide deshalb an einer Chondropathie III. Grades.

Die Patientin führte zunächst ein Schlichtungsverfahren vor der Gutachterstelle der Landesärztekammer durch. In dem Gutachten wurde festgestellt, dass ein Behandlungsfehler nicht vorliege. Die Patientin erhob eine Klage beim Landgericht und legte dort zum Nachweis eines Behandlungsfehlers eine ärztliche Stellungnahme eines Orthopäden ein. Das Landgericht wies die Klage der Patientin ab und begründete dies mit den im Sachverständigengutachten des Schlichtungsverfahrens getroffenen Feststellungen. Aus diesem ginge eindeutig hervor, dass ein Behandlungsfehler nicht vorliege. Die Stellungnahme des Orthopäden würde diese Feststellungen nicht in Zweifel ziehen. Ein weiteres Sachverständigengutachten wurde in dem Verfahren nicht eingeholt.

Die von der Patientin daraufhin eingelegte Berufung wurde nicht zugelassen.

Die Patientin legte Nichtzulassungsbeschwerde ein. Dieser wurde stattgegeben. Der BGH begründete seine Entscheidung wie folgt:

a) Im Arzthaftungsprozess hat das Gericht zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts in der Regel einen Sachverständigen einzuschalten (vgl. OLG Hamm, AHRS 7010/124; AHRS 7010/300; AHRS 7010/319; OLG Karlsruhe, AHRS 7010/328). Dabei kann gemäß § 411a ZPO eine schriftliche Begutachtung durch die Verwertung eines gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden. Das schließt allerdings nicht aus, dass ein außerhalb des Rechtsstreits, etwa in einem anderen Verfahren erstattetes Gutachten grundsätzlich auch im Arzthaftungsprozess im Wege des Urkundsbeweises verwertet werden kann (vgl. Senatsurteile vom 5. Februar 1963 – VI ZR 42/62 – VersR 1963, 463, 464 [ärztliches Gutachten aus einem Armenrechtsverfahren]; vom 8. November 1994 – VI ZR 207/93 – VersR 1995, 481, 482 [mehrere Gutachten aus einem Strafverfahren]; vom 22. April 1997 – VI ZR 198/96 – VersR 1997, 1158, 1159 [Gutachten aus einem sozialgerichtlichen Verfahren] und vom 23. April 2002 – VI ZR 180/01 – VersR 2002, 911 [unfallanalytisches Gutachten aus einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren]). Nach der Rechtsprechung des Senats gilt dies im Grundsatz auch für medizinische Gutachten aus vorausgegangenen Verfahren ärztlicher Schlichtungsstellen (vgl. Senatsurteile vom 19. Mai 1987 – VI ZR 147/86 – VersR 1987, 1091, 1092 und vom 2. März 1993 – VI ZR 104/92 – VersR 1993, 749, 750; vgl. auch OLG Köln, VersR 1990, 311 und AHRS 7010, 333). Der Tatrichter muss aber ein gerichtliches Sachverständigengutachten jedenfalls dann einholen, wenn ein im Wege des Urkundsbeweises verwertetes Gutachten nicht alle Fragen beantwortet (Senatsurteil vom 2. März 1993 – VI ZR 104/92 – aaO; vgl. auch OLG Bremen, OLGR 2001, 398 = AHRS 7010/309). Ein solcher Fall ist hier gegeben.

b) Das Berufungsgericht hat es verfahrensfehlerhaft versäumt, dem von der Klägerin durch Vorlage der ärztlichen Stellungnahme des Orthopäden Dr. G. untermauerten Vortrag nachzugehen, wonach eine sofortige Operation indiziert gewesen sei. Den darin liegenden Widerspruch zu der Beurteilung des Schlichtungsgutachters hätte das Berufungsgericht durch Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens aufklären müssen. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zudem mit Recht geltend macht, befasst sich das Schlichtungsgutachten auch nicht mit dem Hilfsvorbringen der Klägerin, zu der negativen Entwicklung des Heilungsprozesses habe das anfängliche Fehlen der für eine konservative Behandlung erforderlichen und im Streitfall auch ärztlich verordneten Medicom-Schiene beigetragen. In diesem Zusammenhang hätte das Berufungsgericht gegebenenfalls auch der von den Beklagten angesprochenen Frage nachgehen müssen, ob und auf welche Weise die auch von ihnen für die Zeit der konservativen Behandlung für erforderlich erachtete Ruhigstellung des Kniegelenks trotz fehlender Schiene gewährleistet war.

3. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Klärung zu einer anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre, war das Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.“

Anmerkung:
Die Entscheidung des BGH hat zur Folge, dass in Arzthaftungsprozessen grundsätzlich zur Abklärung des medizinischen Sachverhalts ein Sachverständigengutachten durch das Gericht einzuholen ist, auch dann, wenn im Vorfeld des Verfahrens bereits ein Schlichtugsverfahren bei der zuständigen Gutachterkommision durchgeführt wurde und somit bereits ein Gutachten vorliegt. Dies ergibt sich daraus, dass in den wenigsten Fällen alle für eine gerichtliche Entscheidung erforderlichen Punkte in den Gutachten der Schlichtungsstelle berücksichtigt werden.